Sonntag, 17. Juni 2012

Märchen über die zweite Jugend

1. Kapitel, Ein schöner Brief

Es war einst eine schöne Frau,
die wandte sich zum Welken.
Sie sah im Spiegel ganz genau,
um ihre Augen Fältchen.

Was blieb, war ihr Pupillenglanz
aus jugendlichen Tagen,
der blieb ihr treu, den hielt sie ganz,
der ließ sich schicklich tragen.

 Sie sah sehr gern zum Fenster raus,
derweil die Welt ergraute.
Ein Mann ging täglich vor dem Haus
vorbei, er grüßte, schaute.

Er nickte ihr und hob die Hand
sein Winken traf sie zärtlich.
Sie liebte das, doch ach, sie fand,
sich zunehmend entbehrlich.

Sie welkte wie ein Rosenblatt
dahin in kalten Stunden.
Sie fühlte sich vom Leben matt,
ihr Glück schien ihr entschwunden.

Doch eines Tages kam ein Brief
voll zärtlicher Gedanken.
Der Postmann bracht’ ihn, als sie schlief,
sein Inhalt ließ sie wanken.

Ein unbekannter Lebemann
besang sie kühn, gediegen.
Ihr Dichterherz erlag, gewann,
ihr Pulsschlag wollt’ versiegen.


2. Kapitel, Briefe und Gedichte

Der erste Brief war anonym,
der zweite eher ungestüm,
der dritte rührte jedes Herz,
der vierte zeigte Lebensschmerz.

Die reife Frau ließ alle auf sich wirken,
sie fragte sich: Wer will mich so bemerken?

Der Dichter zeigte sich nicht gleich,
die Muse schien ihm viel zu reich.
Erlag er auch der schönen Frau,
so wusste er doch zu genau:

Nur menschliche Begegnung ebnet Wege,
drum schickte er ihr bald sein Bild, verlegen.

Das Musenherz, erwärmte sich,
sie schrieb zurück, besang ihr ich,
Kein Tag strich wortlos mehr dahin,
das Leben floss im neuen Sinn.

Der Dichter trat vernehmlich aus dem Schatten,
die reife Frau begann ihn zu erwarten.  


3. Kapitel, Verjüngungskur

Sie sah sich neu im Spiegel an,
die Frau mit den Gedichten.
Der Dichter brach den Altersbann,
die Falten, sie entwichen.

Kein Make-up hätte das geschafft,
nicht Heilkraut oder Pharmazie,
Die Haut der Frau ward neu gestrafft,
gedieh in frischer Harmonie.

Sie strahlte aus dem Inneren,
sie fühlte sich wie neu gebor’n.
Die Jugend wirkte näher, denn
sie war als Muse auserkor’n.

In ihr entstand ein inneres Verlangen,
das Dichterherz mit Worten einzufangen.

Bald sah sie aus wie zwanzig Jahr,
erblühte wie ein Tulpenbaum,
mit lockig kurzem Strähnenhaar,
erwuchs des Dichters schönster Traum.

Sie war für ihn die Zauberfee,
trat aus dem Sternentor ans Licht,
war Königin aus Eis und Schnee,
ein Fabelwesen war sie schlicht.

Das schreckte ach, das Frauenherz,
das Fräulein wollte kleiner sein.
Drum flößte es manch dumpfen Schmerz,
dem Dichter in die Kehle ein.

Sie liebte ihn, doch sollte er erkennen,
zu viel der Leidenschaft vermag zu trennen.


4. Kapitel, Irrungen und Wirrungen

Sie schwieg, wenn neue Briefe kamen,
das warf den Dichter jäh zurück,
entschwinden sah er bald sein Glück,
ein Unheil wollt’ er wissend ahnen.

Verloren schien der Zaubernamen
mit dem er einst die Frau bestückt,
der Kummer fraß ihn Stück um Stück,
sie machte ihn zum Untertanen.

 Drum setzte er mit Feuerworten
was schon geschrieben stand in Brand.
Wollt’ all die Anmut nicht mehr horten,

Die einst er bei der Schönen fand.
Es zog ihn zu entfernten Orten,
beseelt von hehrem Unverstand.


5. Kapitel, Melancholie

Die Schöne hielt den letzten Brief in Händen,
sah ihre Schönheit bröckeln wie Zement.
Der Dichter wollt’ der Worte Strom beenden,
sie sah sich von dem Jugendquell getrennt.

Sie hatte es wohl etwas übertrieben,
als sie die Stimme nimmermehr erhob.
Die Stille ließ den Dichter weiter lieben,
doch fühlte er, wie sich die Welt verschob.

Bekümmert trat er nun aus ihrem Leben,
und eilte mit gesenktem Haupt davon.
Die Schöne sah ihr süßes Glück entschweben,
ein böses Schicksal lächelte voll Hohn.

Sie wollt’ den Weg nicht länger beibehalten,
der einst sie mit dem Dichterfreund verband.
Sie dachte: „Meister Trübsal, magst du walten,
einst spült es mir den Dichter an den Strand.“

Am nächsten Tag, verließ sie ihr Mauern,
und wandelte durch Straßen ihrer Stadt.
Da lag ein Blatt, das ließ sie doch erschauern,
am Boden, das ihr Freund geschrieben hatt’.

Er suhlte sich darin in seinen Wunden,
bedauerte sein letztes hartes Wort.
Das führte sie zurück in schöne Stunden,
die Stunden ihrer Freundschaft waren fort.

So schrieb sie ihrem Dichter nur zwei Zeilen
Und bot ihm ihre Nähe wieder an.
Der Dichter wollte gern bei ihr verweilen,
das Angebot entwaffnete galant.


6. Kapitel, Neue Tiefe

Am Morgen nach dem großen Streit
ergab sich die Gelegenheit,
dass zwei sich trafen, die sich gleich erkannten.
Ein Mann ging vor dem Haus vorbei,
er winkte täglich, grüßte frei,
derweil die Frau Gefühle übermannten.

Sie eilte schnell zur Tür hinaus
schloss sich dabei beinahe aus -
da stand er, einen Brief in seinen Händen.
Die Frau erstarrte, wusste gleich,
das war der Dichter, fahl und bleich,
er wankte, suchte sich schnell abzuwenden.

Sie hielt ihn auf, bat ihn zurück,
er zögerte beim Weg ins Glück,
doch wollt’ sie es beim Zögern nicht belassen.
Er drehte sich zur Muse um,
stand wie erstarrt, ganz still und stumm,
anstatt den schönen Glanz der Frau zu fassen.

Ein Augenblick des Glücks verstrich,
das Dichterbild, es zeigte sich -
die Schöne mochte ihn am Blick erkennen.
So bot sich die Gelegenheit
persönlicher Verbundenheit,
man darf das gern „Moment der Liebe“ nennen.

Die Schöne, sie errötete,
das Dichterauge nötete,
den Mann vor ihrem Hause zu umarmen.
Er trat zurück und ging davon,
da flossen bitt're Tränen schon,
das Schicksal zeigte keinerlei Erbarmen.

So sahen sie sich jäh getrennt,
obwohl sie sich doch stets ersehnt,
doch Menschen leiden gerne solche Qualen.
Sie gingen einen Schritt zurück,
vermehrten damit noch ihr Glück,
die Liebe sollte später erst erstrahlen.


 7. Kapitel, Leidenschaft


Als Wochen verstrichen
und Tage verblichen,
erstarb der Gedanke
an Stunden zu Zweit. 
Erinn'rungen wichen,
ein hungriges Siechen
erfasste die Beiden,
verdarb ihre Zeit.

Verpasst schien die Chance,
nur eine Nuance,
ein falsches Verhalten,
der Taumel missglückt.
Der Schönen Balance,
des Dichterworts Trance,
die Zeichen der Liebe -
auf ewig entrückt.

Mit traurigen Mienen,
die hoffnungslos schienen,
mit hängenden Häuptern,
den Boden fixiert -
So mochten sie dienen,
so gönnte man's ihnen,
so durften sie schlendern
mit Feigheit garniert.    
   
Sie rammten zusammen,
aus Zufall zusammen
auf offener Straße
bei Tage, zu zweit.
Sie hörten sich stammeln
Sie standen in Flammen,
die Liebe, sie drängte,
da kam ihre Zeit.

Als sie sich umarmten,
sich endlich erbarmten,
da brachen die Dämme,
sie spürten ihr Glück.
Der Widerstand lahmte, 
die Leidenschaft bahnte
den Liebenden Wege-
es gab kein Zurück.

  Mit feurigen Küssen,
in höchsten Genüssen,
genossen sie beide
den ewigen Tanz.  
Er lag ihr zu Füßen,
sie ließ es nicht büßen,
sie liebten einander,
verbanden sich ganz.

 Wenn zwei sich erkennen,
sich namenlos nennen,
Gedanken erfühlen,
dann weicht alle Not.
Man darf sie nicht trennen,
nicht treiben, nicht hemmen,
dann hält ihre Jugend,
erschreckt sich der Tod.

...und wenn sie nicht gestorben sind
dann Leben sie noch heute?

Magier der Worte



1. Kapitel, Die Lehren des Merlin

„Merlin, großer Zauberlehrer,
lehre mich den Weg ins Glück!
Welchen Trank braut der Verehrer,
sucht er Liebe, schwer bedrückt?
Meiner Lotte fehlt der Wille,
sieht in mir nicht, was sie sucht.
Träumt vom Prinzen, welche Grille!
Doch sie drängt mich wie ein Fluch.
Mit den rechten Zauberkünsten
binde ich sie fest an mich.
Wandle mich, wie sie’s erwünschte,
Merlin, hilf! Ich bitte dich.“

Dieses sprach der Zauberlehrling
Anabraxas, tief gerührt,
als sein Unheil sachte anfing,
von der Triebe Gier verführt.
Merlin hob die Augenbrauen,
seine Stirn, gefurcht vor Zorn:
„Zauberei betört die Frauen“,
kam die Antwort, „heißer Sporn!
Glaubst du, dass ich Liebe schaffe,
wo Magie mein Handwerk ist?
Schwarze Kunst ist keine Waffe,
die ich nutze – sie ist List!“

„Willst du wahre Liebe lernen,
blicke dir ganz tief ins Herz.
Dringe vor zu deinem Kerne,
ahne deinen tiefsten Schmerz.
Fass’ all dies in eigne Worte,
bring` sie deiner Lotte dar.
So gelangst du an die Pforte
ihrer Seele, ohn’ Gefahr.
Wählst du jedoch Zaubersprüche
oder Tränke deiner Wahl,
geht dein Glück schnell in die Brüche,
wandelt sich in graue Qual.“

Anabraxas war erschüttert,
Merlins Rat warf ihn zurück.
War der Alte bloß verbittert,
dräute ihn der Neid ein Stück?
Lotte liebte dessen Zauber,
sah der Meister ihre Zier?
Anabraxas ahnte, glaubte,
Merlins Antrieb sei von Gier.
Scheinbar wollt` er ihn verdrängen,
vom Altar der reinen Lust,
Wollt mit Zweifeln ihn versengen,
trieb den Alten Eifersucht?   
 
So gab Anabraxas der Einsicht die Ehre,
natürlich vermeintlich, auf dass er sich wehre.
Des Meisters Verlangen schien lüstern und schmutzig,
der Lehrling erboste, entwand sich ihm trutzig.
Er schmiedete Pläne, sich selbst zu belehren,
und Zaubererbüchern die Ehre zu geben.

2. Kapitel, Die weiße Bibliothek

Die Bücherei der Zauberkünste,
bestand vor Sturm und Feuersbrünsten.
Ein Bannkreis schützte die Regale,
bewahrte Zauberideale.
Die Bände bargen manch Geheimnis,
Geschichte, Spruch und Trank und Gleichnis.

Sie lockten drum den Zauberlehrling
zur Suche nach der Liebe Mehrung,
die Lottchens Sehnsucht wild entfachte,
ihr Anabraxas näher brachte.
Der Lehrling suchte viele Stunden,
die Zauberbände zu erkunden.

Er stieß auf Tränke zur Hypnose,
zur astrologischen Prognose,
auf Mittel gegen Krebsgeschwüre,
Methoden gegen falsche Schwüre. 
Er fand all dies und suchte weiter,
doch, ach herrje!  Er kam nicht weiter.

Den Liebestrank schien’s nicht zu geben,
erfolglos blieb des Lehrlings Streben.
War’s schwarze Kunst, den Trank zu brauen?
Musst’ er am Ende Merlin trauen?
So ratlos war er nie gewesen,
wie sollt’ er je vom Schmerz genesen?

Sein Eifer blieb am Ende sinnlos,
die weiße Bücherei ertraglos.
Er musste sich ins Finstre kehren,
durft’ sich der Sünde nicht verwehren.
Die schwarze Kunst verlockte drängend,
des Anabraxas Herz versengend.

Er musste schnell den Schlüssel finden,
um Merlins Fluch zu überwinden,
mit dem der alte Zaubermeister,
die schwarze Bücherei verwaiste.
Sie lag versteckt im finstren Keller,
geöffnet nur für Auserwählte.

Dämonische, verstaubte Bücher,
gehüllt in schwarze Seidentücher,
vom Meister furchtsam ausgelagert,
von schwarzen Künstlern durchgeackert -
darin wollt Annabraxas blättern,
den Fluch der Liebe sich ergattern.

So brach er ein, in Merlins Kammer,
zu seinem Glück, zu Merlins Jammer,
erstahl‘ sich dreist die Zauberworte,
den Schlüssel zum geheimen Orte.
Versteckt, in Merlins Tagebuche,
fand er den Spruch, nach langer Suche.

Das Tor zu dem verborgnen Keller,
erschien dem Lehrling nunmehr näher.
Er war bereit, den Preis zu zahlen,
selbst wenn die Bücher Seelen stahlen.
Stand bald schon zwischen all den Bänden,
sah seine Sehnsucht fügsam enden.     

3. Kapitel, Die schwarze Bibliothek

In jener Nacht, als Anabraxas aufbrach,
in Merlins schwarze Zauberbücherei,
durchlebte Lottchen schweißnass einen Albtraum.
sah sich in Stricken windend, nicht mehr frei.

Da zwangen dunkle Mächte ihren Willen,
da rang sie gegen Stimmen der Gewalt.
Da mochte ein Barbar sich an ihr stillen,
verzweifelt suchte sie bei Merlin Halt.

Der Meister ignorierte all ihr Flehen,
erkannte Lottchen nicht in ihrer Not.
Drum fügte sie sich leidend ins Geschehen
und tat, was sich ihr innerlich verbot.

Sie sah sich lüstern ihrem Trieb ergeben
und schenkte Anabraxas ihren Leib.
Sein Antlitz ließ sie voller Furcht erbeben,
da schrie sie: „Halt! Ich werde nie dein Weib!“

So schrak Charlotte hoch aus ihrem Albtraum,
erwachte zitternd, ahnend, was geschah.
Sie wähnte sich im Kerker, nicht im Schlafraum.
Der Zauberlehrling schien ihr grausam nah.

Derweil fand Anabraxas, was er suchte,
ein Buch, in schwarzem Leder, goldgeziert.
Er lachte, als er Merlins Kunst verfluchte,
vom bösen Reiz gefangen, ungeniert.        

„Tra Kakar est, Tra Hamar kant,
Leva Levest se adamant.
Erweckt seist du, der Liebsten Lust
Weich niemals aus, du musst! Du musst!
Ich hexe mir die Herzen frei,
mit schwarzer Kunst und Zauberei,
Nun Lotte, nun ergib dich mir!
Dein Glück sein mein, im Jetzt und Hier!“
So dröhnte Anabraxas Wort
im lästerlichen Bücherhort.
Der Lederband geriet in Brand
und Rauch stieg auf, ganz unverwandt.
Des Zauberlehrlings Lunge stach,
es knallte laut, der Hall schlug Krach.
 
Die Zauberschule zitterte,
als Merlin Unheil witterte.
Er wusste gleich, was da geschah,
des Lehrlings Ende schien ihm nah.
Er wollte jedoch sicher gehn,
noch einmal nach dem Rechten sehn.
Er trat in seine Kammer ein,
erkannte gleich – oh nein, oh nein! -
sein Tagebuch lag offen da,
darin er seinen Lehrling sah.
Das Buch hielt ihn im Bilde fest,
weil er sich Merlin widersetzt‘.
Der Meister schaute finster drein,
„das räche sich, so soll es sein!“

Als Anabraxas seinen Spruch vollendet
und noch das Buch in seinen Händen lag,
vermeinte er, sein Los sei nun gewendet.
Er freute sich auf seinen nächsten Tag.
Des Lottchens Liebe
war entfacht,
er dachte an sie,
zart uns sacht.
Der Weg schien frei, bezwungen alle Plag.

Die schwarze Bücherei schien ihm nun heller,
der Rauch verzog sich in den dunklen Raum.
Schon wich der Dunst der Moderluft im Keller,
als Merlin schließlich eintrat, roch er’s kaum.
                Der Zauberlehrling
                war schon fort,
                geflohen vor des
                Meisters Wort –
doch was den Lehrling antrieb, war sein Traum.

So mochte Merlin ihn nun still erwarten,
drum harrte er in Lottchens Nähe aus.
Er blickte Anabraxas in die Karten
Und sah ein Los, wovor’s dem Teufel graust.
                „Nun denn, so sieh‘ nun,
                was geschieht,
                wenn Zauber sich die
                Liebe zieht –
 der Fluch, er treffe“, so sprach’s Merlin aus.
               
4. Kapitel, Charlottes Liebe

Der Tag wich einer langen Nacht,
des Lottchens „Liebe“ war erwacht.
Schon stand der Lehrling vor der Tür,
er klopfte an, noch früh, um Acht.

Da stand sie vor ihm, jung und frisch,
und bat ihn gleich an ihren Tisch,
er dankte ihr charmant dafür,
doch schien das Ich der Maid verwischt.

Ihr Lachen -  tot, ihr Strahlen – grau,
sie war ein Schatten jener Frau,
die Anabraxas sich erträumt,
ihm blieb ihr Körper, schal und lau.

Er gab sich der Versuchung hin,
ergötzte sich am Fleischessinn.
Zu viel hatte er schon versäumt,
es schien ihm, Lottchen liebte ihn.

Sie zauderte und bockte nicht,
ergab sich seinem Willen schlicht.
Der Zauberlehrling nutzte das,
sie litt beschämt, das störte nicht.

Sie lag wie eine Puppe da,
die nie ein Stück vom Leben sah.
Dem Lehrling, ach, verging der Spaß -
Zu spät: denn was geschah, geschah…


Enttäuscht und verdrossen verließ er die Liebste,
verkroch sich und grübelte, in sich gekehrt,
begriff sich als Opfer der menschlichen Triebe,
der Zauberspruch hatte ihn Demut gelehrt.
„Ich war mir zu schade zum mühsamen Kampfe,
vermied es, dem Lottchen beiseite zu stehn‘.
Als ich mich voll Schwermut und Sehnsucht verkrampfte,
geschah, was ich ahnte – doch musst‘s wohl geschehn!“
Der Lehrling erging sich in innerer Folter
und suchte nach Wegen ins aufrechte Glück.
Vom Triebe gebrochen, vom Unheil geläutert,
ersann er sich Pfade zum Ausgang zurück.
Die Lösung lag zweifellos in jenem Buche,
das Fleischeslust stillte, doch Liebe zerschlug.
Da lohnte vielleicht eine weitere Suche -
Vielleicht nach dem Gegenfluch jenes Betrugs. 
        
Sein Drang führte ihn zu verbotenen Sprüchen
der Meisters des Bösen und Merlin begriff‘s.
Er war seinem Schüler gewandt auf den Fersen
und folgte ihm leise, ganz tief ins Verlies.
So trat Anabraxas erneut zum Portale
der schwarzmagisch finsteren Bibliothek.
Er flüsterte leise das Wort: „Trakorale!“ -
schon wich jedes Hindernis aus seinem Weg.
Er merkte nicht, wie ihn sein Meister verfolgte,
er ahnte nicht, was im Verborgnen geschah.
Dass Merlin ihn heimlich im Dunkel beäugte,
entging ihm, doch schien ihm der Gegenfluch nah. 
Bald fand er sich zwischen entweihten Regalen,
verlachte zum zweiten Mal Merlins Verbot.
Er wähnte im Buche den Weg aus den Qualen,
in Wahrheit versprach es ihm ewige Not.

5. Kapitel, Zwei Begegnungen

In den finsteren Gewölben
der verwünschten Bücherei,
glänzten Bücherrücken golden,
lockten in die Zauberei.

Anabraxas schien alleine,
forschte nach dem Gegenfluch.
Doch, was Anabraxas meinte,
fand sich nicht: in keinem Buch.

Merlin wich dem Zauberlehrling
von der Seite nimmermehr.
Sah den Schüler in Verzweiflung,
von dem Fluche aufgezehrt.

Anabraxas fand im Düstern
schließlich einen Zauberband.
Dieser schien ihm zuzuflüstern:
„Nimm mich fest in deine Hand!“

Merlin sah den Schüler zaudern,
doch dann griff er ins Regal:
„Halt!“, schrie Merlin. „Alles Schaudern
lohnte nicht des Buches Wahl -

Jene Seiten sind vergiftet,
töteten schon Magier!
Dafür bist du nicht gerüstet,
dummer Strolch, Besessener! 

Hast die Warnung nicht vernommen,
achtetest nicht meinen Rat.
Zeit der Buße ist gekommen,
sieh‘ das Böse deiner Tat!“

„Merlin, großer Zaubermeister,“
sagte Anabraxas da,
„ich beschwor Dämonengeister,
ehe ich das Übel sah.

Lottchen scheint mir ohne Seele,
seit ich mir mein Heil erflucht.
Ob ich auch das Dunkel wählte,
Liebe hatte mich versucht.

Würde dir mein Leben geben,
kehrtest du den Bannfluch um.
Merlin, sieh mein reines Streben!
Merlin, ach! Wie war ich dumm!“  

Anabraxas warf sich nieder,
nieder vor des Meisters Rock.
Zitterte an Leib und Gliedern,
bleich sich windend, unter Schock.

Vor ihm stand der Zauberlehrer,
thronte wie ein Fels im Meer,
hob den Stab und sprach: „Verschmähter,
will dir beistehn‘, bitte sehr.

Gehe nun den Weg der Liebe,
schreibe auf, was dich bedrückt.
Spür‘ der Reue sanfte Hiebe,
wenn dein Fluch sich vor mir bückt.

Ich gedenke, dir zu helfen,
aber, Bruder: Sieh dich vor!
Werde dir den Tag vergällen,
klopfst du neu an Lottchens Tor.
 
Sie soll dich geläutert finden,
wenn sie dich denn finden mag.
Dann darfst du sie an dich binden,
ohne Zauber, unverzagt.“

-        - 

Der Meister ließ den Lehrling gehen,
erhörte ihn, in seinem Flehen,
und sah sich die Charlotte an.
Um ihre Anmut war’s geschehen,
des Lehrlings finsteres Vergehen
es hielt sie fest, im Zauberbann.

Sie mochte Merlin nicht erkennen,
apathisch wirkte ihr Benehmen,
ihr Körper schien vom Geist verwaist.
Der Meister sah die Seele brennen,
dem Fluche sich entgegenstemmen,
doch Lottchens Kraft war schon entgleist.  

Sehr puppenhaft war ihr Bewegen,
als hinge sie an Seidenfäden,
ein wenig marionettengleich –
sie ließ sich kaum vom Meister regen
und Merlin wähnte Zauberschäden,
verborgen in Charlottes Reich. 

Den Zauberstab auf sie gerichtet,
sprach Merlin: „Sei nun aufgerichtet,
Charlotte, kehre du zurück!“
Da regte sich ihr mildes Lächeln
verhalten noch und doch: ein Lächeln,
schon schien sie weniger bedrückt.

Der Stab berührte ihre Stirne,
erweckte ihren Geist im Hirne,
benommen noch, sprach sie zu ihm:
„Ach Merlin, wie seh“ ich dich gerne,
ein Albtraum trübte meine Sinne,
ich sah mich wehrlos untergehn‘.“

Merlin entgegnete: „Liebe Charlotte,
du warst ein Opfer von schwarzer Magie.
Ein junger Lehrling der finstersten Sorte
strebte nach Liebe, nur frag‘ mich nicht wie!
Deine Erinnerung mag nun verblassen,
außer du wünschst sie dir aufrecht zurück.
Doch dann wirst du jenen Lehrling wohl hassen
und dir entgeht eine Ahnung von Glück.“

„Heißt der verteufelte wohl Anabraxas?“
fragte Charlotte den Meister verzagt.
„Er war das Ziel meines liebenden Herzens,
oft hat die Sehnsucht nach ihm schwer geplagt.
Antworte nicht, Merlin, höre mein Flehen!
Sollte er jener Verteufelte sein,
möge mir meine Erinn’rung vergehen,
sonst bleibt ich mit meinem Liebreiz allein.“ 

Und so geschah’s…
 
6. Kapitel, Die Läuterung des Anabraxas

Des Meisters Forderung beachtend
zog Anabraxas sich zurück.
In sich gekehrt, vor Liebe schmachtend
Erhoffte er sich davon Glück.

Er blickte tief in seine Seele
Und schrieb, was er erkannte, auf.
Charlotte blieb, was er erwählte,
für sie nahm er sein Los in Kauf.

Begrenzt von Merlins Zauberschule
bezähmte er den stummen Trieb.
In einer Magierschatulle,
verwahrte er, was er da schrieb.

Fast jeden Tag entstanden Briefe,
dem Lottchen liebend zugewandt.
Ihm war, als ob die Liebste riefe,
als hätt’ sie seine Qual erkannt.

Sein Meister Merlin ließ ihn warten,
vertröstete und stützte ihn,
sah seinem Lehrling in die Karten,
las Brief um Brief als Zugewinn.

Des Lehrlings Schrift gewann Konturen,
je mehr er sich entblätterte.
Da schwanden seines Fluches Spuren,
weil er sich schreibend besserte.

Das Lottchen spürte seine Nähe
und fragte sich, wo er wohl blieb.
Vergessen war des Fluches Zehren,
der Lehrling war ihr weiter lieb.

Sie wünschte sich ein Lebenszeichen
von Anabraxas, ihrem Freund.
Doch schien er ihr wohl auszuweichen,
vorbei war es, mit seiner Treu.

Sie wandte sich besorgt an Merlin
und fragte nach des Liebsten Los.
Der meinte: “Sein Gewissen plagt ihn,
drum weilt er in der Schule Schoß.

Ich will ihm aber gern berichten,
dass du ihn hier gesuchet hast.
Das wird die Reue etwas schlichten,
so dass er sich beim Herze fasst.

Du wirst wohl bald schon von ihm hören,
ich schicke ihn direkt zu dir.
Mit Worten will er dich betören,
er schrieb sie auf, er sprach’s zu mir.“

Charlotte wandte sich zum Gehen,
zufrieden mit des Meisters Wort.
Bald würde sie den Liebsten sehen,
noch ungewiss an welchem Ort.

Der Lehrling fiel aus allen Wolken,
des Lottchens Grüße trafen ihn.
„Die Milch der Reue ist gemolken“,
sprach Merlin: „Sie sei dein Gewinn.“

Sein Lehrling schien genug geläutert,
er gab ihn frei, zu seinem Lohn.
War Anabraxas auch gescheitert -
Der Meister hatte ihn geschont.  

Doch ach, wie sollt’ er Lottchen sagen,
was er in seinem Wahne tat?
Er mochte darum fast verzagen
und suchte Merlins weisen Rat:

„Schick Lotte alle deine Briefe,
ihr fehlt jede Erinnerung.
Wenn deine Stimme schonend schliefe,
käm’ bald schon die Ernüchterung.

Sie will dir deinen Fluch verzeihen,
drum bat sie um Gedächtnisschwund.
Du sollst die Ehrlichkeit nicht scheuen,
drum gib’ ihr deine Fehler kund.

Am Ende wird die Liebe siegen,
sie dringt aus deinen Sätzen vor.
Charlotte wird dem Wort erliegen,
das öffnet dir ihr Seelentor.“

So nahm der Lehrling seine Briefe
Und klopfte bei Charlotte an.
Er drückte sie in ihre Hände,
er gab sie lächelnd - und verschwand.

Jetzt hoffte er auf ihr Verzeihen,
sich mehr erträumen, schien ihm fern.
Was sich auch tat, es war befreiend!
Er beugte sich dem Schicksal gern.

7. Kapitel, Die Liebe

Charlotte las sich durch die Zeilen des Liebsten,
erkannte ihr eigenes Streben darin.
Sie las die Geschichte und ließ sich berühren,
des Fluches Geheimnis ergab seinen Sinn.

Die Untat beging Anabraxas aus Liebe,
das rührte sie peinlich, denn ach – dieser Tor.
Er ahnte nicht seines Charlottchens Belieben,
sie war doch schon bei ihm, als er sich verlor.

Es fiel ihr nicht schwer, ihm die Tat zu vergeben.
Zumal der Erinnerung Schärfe verblich.
Sie wünschte sehr wohl ein gemeinsames Leben,
mit jenem, der sich ihren Körper erschlich.

So flossen die Zeilen in ihre Gedanken,
die Briefe umkreisten des Zauberers Schmerz.
Sie wollte um all das Vergangne nicht zanken
Und öffnete ihrem Geliebten das Herz.       

Sie suchte ihn auf zwischen all seinen Büchern
und reichte ihm ihre verzeihende Hand.
Er gab sich besonnen und redete nüchtern
von seinem Begehren, das qualvoll ihn band.

Der Weg ihrer Liebe war wiedergefunden,
von Küssen erlöst, schwanden Zweifel dahin.
So blieben sie eng aneinander gebunden
Und gaben vergessenen Nöten noch Sinn. 

Die Liebe vergibt auch die finstersten Taten,
solange der Täter sich selber verzeiht.
Drum sei allen Liebenden letztlich geraten:
„Bleibt jederzeit euch zu vergeben bereit.“